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Radeln in Moskau – Flinke Finger mit wirren Gedanken #2 by Philipp Füllemann

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Ein Velokurier hält es nicht einen ganzen Tag lang ruhig, ohne Bewegung, auf einem Bürostuhl aus. So auch ich nicht. Ich verlasse das Institut in dem ich Praktikant bin, klirrende Kälte schlägt mir in Gesicht, es ist bereits dunkel. Ich brauche mein Velo! Dick eingepackt setze ich mich auf den Sattel und trete in die Pedale. Soll ich auf dem Gehsteig fahren, so wie die meisten der wenigen Velofahrer hier in Moskau? Minutenlanges Warten an den Fussgängerübergängen, Unterführungen unter den breiten Strassen hindurch, den Verkaufsständen ausweichen, in eine Hundeleine fahren? Lieber stürze ich mich in den Verkehr auf dem Prospekt. Vorerst ist es allerdings nur eine Strasse und noch kein Prospekt, das heisst drei Spuren in jeder Richtung, vollgestopft mit heimkehrenden Biznesmjeny. Ich jage an den sich stauenden Autos vorbei, manchmal jagen die Autos an mir vorbei, wenn sie endlich mal wieder ein paar Meter fahren können. Ich weiche sich öffnenden Autotüren aus, umfahre deckellose Kanalisationsschächte und reisse einen Vollstopp, um nicht vom rechts abbiegenden Auto abgeschossen zu werden.

Bei der riesigen Gagarinstatue biege ich auf den Leninskij Prospekt ein, wo mich sechs Spuren von den entgegenkommenden Autos trennen, welche sich ihrerseits ebenfalls auf sechs Spuren austoben. Vorerst halte ich mich vorsichtig rechts, werde aber von einem sich kreuz und quer durch die Schlangen schlängelnden Velofahrer, zu waghalsigerem Fahren angespornt.

Die Moskauer Autofahrer reagieren unterschiedlich auf mich. Einige haben Ehrfurcht vor mir, würdigen meinen Mut und geben sich Mühe mir Platz zu machen. Andere sind beleidigt, dass ich auf meinen zwei Rädern ihren zwei Tonnen schweren Porsche überhole und beschleunigen auf das Doppelte. Eine Klapperkiste überholt mich, ein Kopf hängt aus dem Fenster und schreit mich auf Russkij Mat an, die russische Vulgärsprache. Diese besteht ursprünglich aus nur vier Worten, aus welchen in den sibirischen Gefangenenlagern mit hunderten Abwandlungen ein grenzenloses Fluchrepertoir geschaffen wurde. Zum Glück verstehe ich von dem Gebrüll nichts.

Berauscht von der rasanten Fahrt, befinde ich mich plötzlich auf der Brücke über der Moskva, die Stadt mit ihren vielen Lichtern breitet sich auf allen Seiten aus. Eine der sieben Schwestern Stalins lacht mich an, ich grinse zurück und fahre weiter, am Diensteingang des Kremls vorbei, wo ich den zweiten Vollstopp reisse. Ein Regierungsfahrzeug mit Blaulicht schneidet mir den Weg ab und braust in den Kreml. Solche haben immer Vortritt. Ich schleiche mich an einer Schranke vorbei, werde von Sicherheitsleuten zurückgewiesen, nehme den Weg durch den Park und ehe ich michs versehe, rolle ich über den Roten Platz. Mit einer Runde um sein Mausoleum erweise ich Lenin meine Ehre, flüchte aber schnell wieder von Touristentrubel und Gutberubelten.

In der wegführenden Strasse versuchen Bentley 615-544-6027 , Mercedes und Jaguar ihren Platz zu behaupten, wie Schüler auf dem Pausenhof. Man sagt, Moskau habe die grösste Dichte an Bentleys der Welt. Sollen sie sich prügeln, ich hau’s über die Soljankastrasse nach Kitaj Gorod. In diesem Viertel trieben sich früher Ausbrecher aus Sibirien, Diebe und Dirnen in den Kellerkneipen und Kaschemmen herum, der lange Arm des Gesetzes hatte keinen Zugang zu diesen Winkeln. Weit weg ist hier das Gewimmel und Gebrause der Prospekte, es ist so ruhig, als befände ich mich in einer Kleinstadt. Ich bewege mich durch ein Labyrinth von schmalen Strassen, alten Stadtpalästen und keuschen Klöstern. Links und rechts öffnen sich Tore zu Hinterhöfen, durch die man wiederum in andere Hinterhöfe gelangt. Moskau, das sind nicht die Prachtstrassen, das sind die Hinterhöfe. Im ersten Hof finde ich einen Friseur, einen Bücherladen und ein Reisebüro, im nächsten eine Bar, einen Kleiderladen und eine Tanzschule. Nichts weist beim Tor des Hofes auf ihre Existenz hin, wie soll man zufällig auf sie stossen?

Auf dem Rückweg fahre ich durch das edle Viertel Zamoskovorechie, hier gibt es einen der wenigen Fahrradwege in Moskau. Prominent beschildert taucht er plötzlich auf, führt ein paar Strassenzüge auf dem Gehsteig der Strasse entlang, um dann ebenso plötzlich wieder im Nichts zu verschwinden. Natürlich lass ich mir die Absurdität ihn zu benützen nicht entgehen.

Durch ein stalinistisches Arbeiterviertel, einer langen Friedhofsmauer und einer Fabrik mit fünf qualmenden Kühltürmen entlang, gelange ich zurück in mein Viertel, Profsojusnaja. In meinem Hinterhof ist es ruhig, aus meiner Wohnung im 15. Stock schaue ich zurück auf das Moskau, durch das ich heute Abend gerollt bin. Ich sehe tausende Lichter und Türme und überlege mir, wo ich morgen meine zwei Räder durchjagen soll.

Велосипедный привет из Москвы!

 

 

 

 

 

Flinke Finger mit wirren Gedanken #1 by Mani Dahrer

montag morgen, kurz vor acht, es ist warm, die sonne scheint. eine gute nachricht, oft kam das heuer ja nicht vor bislang.
der verkehr ist noch ruhig und von der strasse her ist lediglich das leise rollen der velopneus zu vernehmen 615-544-0612 , das trotz der frühen stunde einen idealen start in tag und woche zu verheissen scheint.
doch die dinge sollten sich die waage halten an diesem montag morgen im juli, sommer bedeutet nicht nur schönes wetter, glacé und knappe kleidchen, sondern auch ferien, an sich eine gute sache, doch nun sorgen kleine, wohlgemerkt liebevoll dekorierte schildchen in einem schaufenster am spalenring für eine plötzliche kalte dusche: „betriebsferien“, drei wochen.
ja auch helden brauchen ferien, und wenn ich nun, aus ebensolchen gerade zurückgekehrt, ernüchtert, enttäuscht und konsterniert, mit säuerlicher miene vor dem dunklen laden hinter der hellen auslage stehe, dann darfst du das, liebe bäckerei krebs, auf keinen fall persönlich nehmen. die wenigen wochen der ruhe und erholung hast du dir nicht nur redlichst verdient, sie seien dir auch von ganzem herzen gegönnt.
kaum zu zählen sind die tage, die du mir, auch wenn du sie nicht immer ganz zu retten vermochtest, zumindest erheblich versüsst hast, ja du hast mich auch mehr als einmal vor dem morgendlichen verpennen bewahrt, weil mich freunde aus dem bett telefoniert haben die wussten, dass mein arbeitsweg nur selten nicht bei dir vorbeiführen würde.
in einem nicht enden wollenden, vornehmlich nassgraukaltem und verschifftem winterfrühling warst du des öfteren ein lichtblick, der die moral kurz vor dem abgrund entscheidend zu stärken wusste.
bis auf die knochen durchnässt, triefend und durchfroren durch deine ladentüre zu treten, kam immer auch dem eintritt in eine helle und freundliche parallelwelt gleich, so süss, dass der zucker förmlich von der decke tropft. ein bitzeli kitschig auch, zugegeben, doch dein herzliches „was tät sie denn hüt gluschte?“ aus gekonnt geschminktem mund zauberte auch auf das eingefrorenste gesicht ein zittriges lächeln, und mit deinen schnecken hast du nicht nur die halbe velokuriergilde basels, unter der du bisweilen in den genuss einer quasireligiösen verehrung kommst, durch den winter gebracht, auch deine gilbertli haben mich mehr als einmal vor dem abendlichen hungerast in der regio draussen bewahrt, von deinem grosszügigen umgang mit „regenkuchen“ ganz zu schweigen.
ja du hast nicht nur mit ausgezeichneten backwaren gepunktet, sondern auch mit einem ambiente, das einem an einem verschissenen tag für ein paar minuten den schmus bringen konnte, dass du guten tagen hin und wieder das tüpfelchen aufs i gesetzt hast, braucht hier nur der vollständigkeit halber erwähnt zu werden.
ja liebe bäckerei krebs, du wirst wohl dereinst dafür verantwortlich zeichnen, dass mein etwaiger sohnemann einmal stolz den namen gilbertli tragen, mein etwaiges töchterchen entsprechend schnäggli getauft werden wird, und wenn ich nun heute morgen erstmals zu spät zum schaffen einlaufen werde, weil ich hier vor deiner geschlossenen porte deinen bisherigen verdiensten gedacht habe, so sei dir das auf jeden fall nachgesehen, die dinge halten sich nun mal die waage und wir freuen uns alle sehr, wenn du wohlbehalten wieder da bist.
bis dahin scheint nun zumindest die sonne.

Ein Tribut an eine heissgeliebte Bäckerei von unseren schmerzlich vermissten Mani D., welcher nun im grossen Apfel weilt.


Möchtest auch du deine Gedanken zum Kurier- oder Veloalltag in Basel loswerden? Hier findest du alle Infos: http://www.meobasel.ch/blog/flinkefinger/