Ein Velokurier hält es nicht einen ganzen Tag lang ruhig, ohne Bewegung, auf einem Bürostuhl aus. So auch ich nicht. Ich verlasse das Institut in dem ich Praktikant bin, klirrende Kälte schlägt mir in Gesicht, es ist bereits dunkel. Ich brauche mein Velo! Dick eingepackt setze ich mich auf den Sattel und trete in die Pedale. Soll ich auf dem Gehsteig fahren, so wie die meisten der wenigen Velofahrer hier in Moskau? Minutenlanges Warten an den Fussgängerübergängen, Unterführungen unter den breiten Strassen hindurch, den Verkaufsständen ausweichen, in eine Hundeleine fahren? Lieber stürze ich mich in den Verkehr auf dem Prospekt. Vorerst ist es allerdings nur eine Strasse und noch kein Prospekt, das heisst drei Spuren in jeder Richtung, vollgestopft mit heimkehrenden Biznesmjeny. Ich jage an den sich stauenden Autos vorbei, manchmal jagen die Autos an mir vorbei, wenn sie endlich mal wieder ein paar Meter fahren können. Ich weiche sich öffnenden Autotüren aus, umfahre deckellose Kanalisationsschächte und reisse einen Vollstopp, um nicht vom rechts abbiegenden Auto abgeschossen zu werden.
Bei der riesigen Gagarinstatue biege ich auf den Leninskij Prospekt ein, wo mich sechs Spuren von den entgegenkommenden Autos trennen, welche sich ihrerseits ebenfalls auf sechs Spuren austoben. Vorerst halte ich mich vorsichtig rechts, werde aber von einem sich kreuz und quer durch die Schlangen schlängelnden Velofahrer, zu waghalsigerem Fahren angespornt.
Die Moskauer Autofahrer reagieren unterschiedlich auf mich. Einige haben Ehrfurcht vor mir, würdigen meinen Mut und geben sich Mühe mir Platz zu machen. Andere sind beleidigt, dass ich auf meinen zwei Rädern ihren zwei Tonnen schweren Porsche überhole und beschleunigen auf das Doppelte. Eine Klapperkiste überholt mich, ein Kopf hängt aus dem Fenster und schreit mich auf Russkij Mat an, die russische Vulgärsprache. Diese besteht ursprünglich aus nur vier Worten, aus welchen in den sibirischen Gefangenenlagern mit hunderten Abwandlungen ein grenzenloses Fluchrepertoir geschaffen wurde. Zum Glück verstehe ich von dem Gebrüll nichts.
Berauscht von der rasanten Fahrt, befinde ich mich plötzlich auf der Brücke über der Moskva, die Stadt mit ihren vielen Lichtern breitet sich auf allen Seiten aus. Eine der sieben Schwestern Stalins lacht mich an, ich grinse zurück und fahre weiter, am Diensteingang des Kremls vorbei, wo ich den zweiten Vollstopp reisse. Ein Regierungsfahrzeug mit Blaulicht schneidet mir den Weg ab und braust in den Kreml. Solche haben immer Vortritt. Ich schleiche mich an einer Schranke vorbei, werde von Sicherheitsleuten zurückgewiesen, nehme den Weg durch den Park und ehe ich michs versehe, rolle ich über den Roten Platz. Mit einer Runde um sein Mausoleum erweise ich Lenin meine Ehre, flüchte aber schnell wieder von Touristentrubel und Gutberubelten.
In der wegführenden Strasse versuchen Bentley 615-544-6027 , Mercedes und Jaguar ihren Platz zu behaupten, wie Schüler auf dem Pausenhof. Man sagt, Moskau habe die grösste Dichte an Bentleys der Welt. Sollen sie sich prügeln, ich hau’s über die Soljankastrasse nach Kitaj Gorod. In diesem Viertel trieben sich früher Ausbrecher aus Sibirien, Diebe und Dirnen in den Kellerkneipen und Kaschemmen herum, der lange Arm des Gesetzes hatte keinen Zugang zu diesen Winkeln. Weit weg ist hier das Gewimmel und Gebrause der Prospekte, es ist so ruhig, als befände ich mich in einer Kleinstadt. Ich bewege mich durch ein Labyrinth von schmalen Strassen, alten Stadtpalästen und keuschen Klöstern. Links und rechts öffnen sich Tore zu Hinterhöfen, durch die man wiederum in andere Hinterhöfe gelangt. Moskau, das sind nicht die Prachtstrassen, das sind die Hinterhöfe. Im ersten Hof finde ich einen Friseur, einen Bücherladen und ein Reisebüro, im nächsten eine Bar, einen Kleiderladen und eine Tanzschule. Nichts weist beim Tor des Hofes auf ihre Existenz hin, wie soll man zufällig auf sie stossen?
Auf dem Rückweg fahre ich durch das edle Viertel Zamoskovorechie, hier gibt es einen der wenigen Fahrradwege in Moskau. Prominent beschildert taucht er plötzlich auf, führt ein paar Strassenzüge auf dem Gehsteig der Strasse entlang, um dann ebenso plötzlich wieder im Nichts zu verschwinden. Natürlich lass ich mir die Absurdität ihn zu benützen nicht entgehen.
Durch ein stalinistisches Arbeiterviertel, einer langen Friedhofsmauer und einer Fabrik mit fünf qualmenden Kühltürmen entlang, gelange ich zurück in mein Viertel, Profsojusnaja. In meinem Hinterhof ist es ruhig, aus meiner Wohnung im 15. Stock schaue ich zurück auf das Moskau, durch das ich heute Abend gerollt bin. Ich sehe tausende Lichter und Türme und überlege mir, wo ich morgen meine zwei Räder durchjagen soll.
Велосипедный привет из Москвы!